Die Wahl von 1969 war ein Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik: Die Union war erstmals nicht mehr Regierungspartei, die SPD bildete eine Koalition mit der FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt. Der stand für ein moderneres Deutschland und peilte eine ganze Reihe von Reformen an.
1969 Machtwechsel
Die Bundestagswahl vom 28. September 1969 war ein Epochenereignis. Dabei war es ein paradoxer Wahlabend. Die Wahlsiegerin musste spät in der Nacht erkennen, dass sie die große Verliererin war: Denn die Union wurde zwar wieder stärkste Partei, aber SPD und FDP hatten zusammen eine Mehrheit – und kündigten die sozialliberale Koalition an, die bis 1982 regieren sollte. Kanzler Kurt-Georg Kiesinger wurde von seinem Außenminister Willy Brandt abgelöst, der die SPD erstmals über 40 Prozent hievte. Die FDP entging knapp dem Aus, der Schwenk hin zur SPD – in Nordrhein-Westfalen vorexerziert – war ein Risiko. Doch Walter Scheels Strategie, die FDP nach links zu öffnen und damit neue und jüngere Wähler anzusprechen, zahlte sich längerfristig aus. Brandt hatte mit dem Slogan »Mehr Demokratie wagen« geworben, nun schob er ein ehrgeiziges Reformprogramm an, mit dem Deutschland moderner werden sollte. Fast kein Politikfeld wurde ausgenommen. Die Union reagierte auf das Wahlergebnis trotzig. In den ersten Jahren glaubte sie, mit einem Rechtsschwenk und knallharter Konfrontation zur Regierung punkten zu können. Aber sie war aus dem Tritt geraten, gerierte sich als Fundamentalopposition, die auf Rache sann. Vor allem die Ostpolitik von Brandt und Scheel bekämpfte sie vehement. Es war ein schwieriger Übergang für die Konservativen, auch weil ein richtiger Einbruch nie stattfand – sie blieben in den polarisierten 70er-Jahren stark genug, um die Beharrungskräfte in der Partei zu bestätigen. Aber die Mitte verlor sie so für viele Jahre aus dem Blick.
Kein Wahlrecht im Westen
Manfred Füger erzählt von seiner ersten Wahl
Mein Name ist Manfred Füger. Ich bin Jahrgang 1947, also 70 Jahre alt und habe 1969 zum ersten Mal gewählt, hier in Berlin.
Das Besondere an meiner ersten Wahl war natürlich überhaupt das Erlebnis, zum ersten Mal wählen zu dürfen; das durfte man ja damals erst mit 21. Das zweite, was mir sehr lebendig in Erinnerung ist, ist, dass diese Wahl in einem tatsächlichen Wahl-Lokal – also in einer Kneipe – stattfand, was man später nicht mehr machen konnte. Das war schon eine besondere Atmosphäre. Es war einfach kommunikativer und man hat sich da auch mit Freunden oder seinem Partner verabredet.
Man hat es schon als Problem empfunden, dass man damals als Westberliner – was man sicher gern getan hätte – den Bundestag nicht direkt wählen konnte. Man konnte nur das Berliner Abgeordnetenhaus wählen. Aber auch das hat natürlich indirekt beeinflusst, wer in den Bundestag einzog, und am Ende war ich und viele meiner Freunde sehr glücklich mit dem Wahlergebnis, als nach der langen CDU-Kanzlerschaft mit Willy Brandt endlich ein Sozialdemokrat Bundeskanzler wurde.
Meine Erinnerung an diese erste Wahl und die Zeit davor ist natürlich sehr geprägt von den vielen Studentenunruhen an den Universitäten, aber auch auf den Straßen. Mit den Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und der Zersplitterung der studentischen und revolutionären Bewegung in viele Kleinstgruppen war es eine sehr unruhige, aber auch eine sehr politische Zeit. Manchmal denke ich mir heute, wo es auch so viel Reformbedarf auf vielen Feldern der Politik gibt, dass etwas mehr Aufbegehren und Unruhe, vielleicht auch politisches Interesse in der jüngeren Generation, ganz gut wären. Aber ich glaube, das kommt auch wieder.
Plakate im Wahlkampf 1969
Titelseite des Tagesspiegel nach der Wahl
30. September 1969