Zerstritten und zerrissen gehen die Sozialdemokraten in die Wahl von 1994 – und verschenken so den möglichen Sieg gegen den »ewigen Kanzler« Helmut Kohl. Am Ende lag Schwarz-Gelb wieder knapp vor Rot-Grün
1994 Das Versagen der SPD
Wie konnte Helmut Kohl bloß diese Wahl am 16. Oktober 1994 gewinnen? Als Kanzler der Einheit hatte der CDU-Chef mittlerweile deutlich an Glanz verloren, die Hoffnungen aus dem Jahr 1990 hatten deutlicher Ernüchterung Platz gemacht. Die Kosten für die Abwicklung der DDR und den Aufbau der Infrastruktur waren weit höher als gedacht (und gesagt). Kohl war im Volk unbeliebt, in seiner Partei aber hatte er seine Macht so gefestigt, dass sich kein Herausforderer aus der Deckung wagte (Kurt Biedenkopf etwa, der sächsische Ministerpräsident, kam nicht über vernehmliche Kritik hinaus). Die SPD aber brachte es nicht fertig, als regierungsfähige Partei aufzutreten. Der als Kanzlerkandidat aufgebaute Björn Engholm musste 1993 zurücktreten, weil er in der undurchsichtigen Affäre um den CDU-Politiker Uwe Barschel, seinen Vorgänger als Ministerpräsident in Kiel, gelogen hatte. Daher trat Parteichef Rudolf Scharping an, doch der Mainzer Ministerpräsident war umstritten. Zwei andere Sozialdemokraten – Saar-Chef Oskar Lafontaine und der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder – hielten sich jeweils für den besseren Kandidaten. Die SPD trat als zerrissene Partei vor die Wähler. Scharpings Wahlkampf wirkte zunehmend glücklos, Kohl dagegen lief zu überraschend guter Form auf. Die Kampagne der Union setzte unter anderem auf das umstrittene Rote-Socken-Plakat. Der monatelange Vorsprung der SPD in den Umfragen schwand zum Wahltag hin immer mehr, am Ende lagen die Sozialdemokraten hinter der Union. Zwar lag das Regierungslager nur sehr knapp vor der Opposition, aber Schwarz-Gelb konnte weitermachen – zum vierten Mal. Die Grünen hatten sich nach der Wahlschlappe von 1990 wieder berappelt. Die PDS kam dank ihrer vier Direktmandate in Berlin in den Bundestag.
Kribbeln im Bauch
Anja Wedig erzählt von ihrer ersten Wahl
Ich bin Anja Wedig. Ich bin 42 Jahre alt, das heißt, ich habe 1994 zum ersten Mal einen Bundestag gewählt, und das habe ich in Münster getan, gemeinsam mit meiner Mutter, die fand das sehr gut; sie ist Beamtin. Demokratie findet sie astrein, das muss man machen.
Ich war sehr aufgeregt: das Spannendste war, dass sich diese Schlange bildete, vor diesen Wahlkabinen, als man die Formalitäten erledigt hatte, und dann wurde es kribbelig. Dann bin ich rein, habe mich konzentriert, dass es auch passt mit dem Kreuz und so. Ich wusste, was ich wählen wollte, das ging ratzfatz, dann bin ich wieder raus und war sehr stolz, dass es geschehen ist.
Ich habe mich in dem Sinne nicht auf diese Wahl vorbereitet. Man war mit 18, 19 sowieso politisiert, weil das das Alter ist. Damals haben wir gegen den Irakkrieg demonstriert, das heißt, man war auf der Straße und hatte so eine grundsätzliche Haltung inne. Und die drückte sich dann bei mir in dem Wissen aus, welche Partei ich für mich am besten fand, die meine Interessen da vertreten würde.
1994 ging es um Kohl. Natürlich gab es überall verunstaltete Plakate mit dieser Birne und so. Es war ganz eindeutig, dass es eben auch darum ging, den Wechsel oder nicht den Wechsel zu wählen. So habe ich auch den Wechsel gewählt, weil ich natürlich mit 18, 19 auch das Gegenteil dessen tun wollte, was meine Eltern taten. Das gehört auch dazu – als Erstwähler war es ganz klar, dass man auch in die Generation darüber guckte, die eben diesen Kohl und dieses Konservative möglich machten, schon seit gefühlten Jahrzehnten (und auch realiter). Aber deswegen auch ein Wechsel, ja.
Ich würde mir – wie wohl viele – diese markanten Köpfe, diese Klartextsprecherinnen und -sprecher wünschen, die anscheinend nicht um ihre nächsten Steps fürchteten, sondern in ihrer Haltung konsequent blieben und sagten, was sie wollen. Neulich sagte einer: »Ach, ich vermisse die Hildebrandt so!«, diese taffe Kämpferin. So was, glaube ich. Weil man einfach dann ein Gefühl von Vertrauen entwickeln kann – das kannst du ja heute nicht mehr.
Plakate im Wahlkampf 1994
Titelseite des Tagesspiegel nach der Wahl
17. Oktober 1994