Bundeskanzler Willy Brandt holt 1972 das beste SPD-Ergebnis aller Zeiten. Der Abwahlversuch durch die Union im Bundestag war zuvor fehlgeschlagen. Aber der Triumph Brandts währte nicht lang. Denn seine Reformpolitik galt vielen Sozialdemokraten als zu visionär – und zu teuer.
1972 Willy wählen
Am 27. April 1972 scheiterte das Misstrauensvotum der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen Willy Brandt – dem Herausforderer Rainer Barzel fehlten zwei Stimmen, weil Abgeordnete der Union, bestochen durch die DDR-Regierung, sich enthielten. Im Bundestag herrschte eine unklare Situation, Regierung und Opposition strebten daher vorgezogene Neuwahlen an. Die Bundestagswahl vom 19. November 1972 ging als »Willy-Wahl« in die Geschichte ein. Die SPD entwarf einen Wahlkampf, der ganz auf Brandt zugeschnitten war, den »Kanzler des Vertrauens«. Es war ein Personalplebiszit, wie es seither nicht mehr veranstaltet worden ist. Zudem stellte die sozialliberale Koalition ihre Ostpolitik zur Abstimmung, die von der Union fundamental abgelehnt wurde. Und natürlich ging es auch um die sozialliberalen Reformversprechen, die von einem großen Teil der jüngeren Generation unterstützt wurden. Die Mobilisierung war gewaltig: 91,1 Prozent der Wahlberechtigten machten ihre Kreuzchen. Und Brandt, 1971 zum Friedensnobelpreisträger gekürt, zog mit seiner Popularität die SPD auf 45,8 Prozent, ihr bis heute bestes Ergebnis in nationalen Wahlen. Was die Leute nicht wussten: In der Parteiführung intrigierten Herbert Wehner und Helmut Schmidt bereits gegen Brandt – sie hielten ihn nicht mehr für führungsfähig. Brandt amtierte noch zwei Jahre, aber die Regierungspolitik wurde zunehmend von Schmidt und Wehner gestaltet, die erkannten, dass auf die euphorische erste Reformphase nun die Mühen der Ebene folgen würden. Abstriche an Brandts Politik der gesellschaftlichen Umgestaltung waren schon aus finanziellen Gründen zwangsläufig. Die SPD hatte nach 1969 zu hohe Erwartungen geweckt.
Kommunistin unter Bayern
Hannelore Mühlenhaupt erzählt von ihrer ersten Wahl
Mein Name ist Hannelore Mühlenhaupt. Ich wurde 1949 in einem kleinen Dorf in Mittelfranken geboren und habe 1972 das erste Mal gewählt.
Ich war damals sehr jung und sehr wütend und habe deswegen aus Protest die KPDAO gewählt. Aber nicht, weil sie meine tiefen Sympathien hatte; es war eine reine Protestwahl. Der nächste Ort lag ungefähr zwei Kilometer entfernt, da wurde ich dann mit meinen Schwestern eingepackt in den Mercedes 180 und dann fuhren wir hinüber ins Dorf, in den Festsaal vom Wirtshaus, da waren die Wahlkabinen. Und anschließend sind wir dann zum Wirt runtergegangen und haben Schweinsbraten mit Knödeln gegessen.
Das Lustige war, dass eine Viertelstunde nach Schließung der Wahllokale der Bürgermeister bei meinem Vater anrief und durchs Telefon brüllte: »Roman, deine Tochter hat KPD gewählt!« Das war natürlich leicht zu lokalisieren, denn ich war die Einzige, die aufs Gymnasium ging. Ich hatte immer irgendwelche langhaarigen Freunde, die mich besuchten und meinem Vater schon ziemlich peinlich waren. Ich war die Einzige, die mit einem Loch in der Jeans durchs Dorf lief. Ich habe auch manches Mal Anti-Strauß-Sticker irgendwohin geklebt. Da wussten die natürlich auch sofort, dass ich das war.
Franz-Josef Strauß hat damals unerträglich gehetzt. Er hat rechte Parolen verbreitet ohne Ende. Und ich habe mich über alles, was er gesagt hat, wirklich empört. Inzwischen leiste ich sogar Franz-Josef Strauß Abbitte, weil ich jetzt glaube, dass es damals notwendig war, mit solchen rechtsradikalen Parolen aufzutreten. Denn in unserem Dorf gab es zwölf Prozent NPD-Wähler. Die waren im Gegensatz zu den SPD-Wählern nicht bekannt.
Die Stimmung in meinem kleinen Dorf war damals so: Auch wenn ich die Opposition war, man konnte trotzdem diskutieren. Und man hat trotzdem zusammen gelebt und hat da hingehört.
Wir wollten hier auch schon politische Lesungen machen, da hatten meine Mitarbeiter Angst, weil die Rechten hier doch immer mehr Oberhand bekommen und auch konkret Menschen bedrohen.
Mir ist es wichtig, dass uns die EU nicht um die Ohren fliegt. Die EU ist einfach etwas Großartiges. Wir hatten lange ein Haus in Portugal. Wenn man damals nach Portugal gefahren ist, hatten wir sechs Geldbeutel mit sechs verschiedenen Währungen.
Für die Bundestagswahl weiß ich es noch nicht. Weil ich eigentlich protestwählen will, aber ich weiß noch nicht was. Ich habe mir nämlich vor zwei Jahren aus Umweltschutzgründen einen neuen Diesel gekauft und wurde so verarscht – sowohl von der Industrie als auch von Herrn Dobrindt – dass ich eigentlich eine Protestwahl machen will, aber ich weiß noch nicht wie.
Plakate im Wahlkampf 1972
Titelseite des Tagesspiegel nach der Wahl
21. November 1972