Mit der Wahl im Dezember 1990 wird die deutsche Einheit demokratisch besiegelt. Schwarz-Gelb gewinnt, weil Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher sich als historische Persönlichkeiten präsentieren. Sozialdemokraten und Grüne fremdelten mit dem schwarz-rot-goldenen Gepräge der Wahl.
1990 Die Schwarz-Rot-Gold-Wahlen
2. Dezember 1990 – die ersten gesamtdeutschen Wahlen nach dem Krieg, ein historisches Datum. Gut ein Jahr zuvor war die Mauer gefallen. Die ersten demokratischen Volkskammerwahlen im März hatten ein Parlament ergeben, welches die Vereinigung mit der Bundesrepublik vorbereitete. Es sollte nun möglichst schnell zusammenwachsen, was zusammengehört: Willy Brandts berühmter Spruch gab die gesamtdeutsche Stimmung wieder. Die ersten Illusionen waren zwar im Dezember 1990 schon verschwunden, im Westen dämmerte es auch schon vielen Wählern, dass die Sache teuer würde. Aber das wahre finanzielle Ausmaß der Transformation war unklar. Im Osten zeigten sich zwar die gravierenden wirtschaftlichen Folgen der DDR-Staatspleite, aber die Hoffnung überwog. Die Einheit war das einzige Thema dieser Wahl (die Golfkrise und der sich parallel zum Wahlkampf anbahnende Krieg gegen den Irak spielten keine Rolle). Für Helmut Kohl war der Mauerfall ein Glücksfall, der ihm die Chance gab, sich als Kanzler der Einheit zu beweisen. In der Tat ging er das Projekt der Vereinigung dynamischer an als vieles in seiner Amtszeit zuvor (die 1987 auf dem Tiefpunkt geraten war, als er nur mit Mühe einen Aufstand in der eigenen Partei abwehren konnte). Der zweite Glücksfall für Kohl war die Kanzlerkandidatur von Oskar Lafontaine bei der SPD. Der Saar-Ministerpräsident entschied sich dafür, in der Einheitspolitik einen klaren Gegenkurs zu steuern – dem Versprechen der »blühenden Landschaften« (Kohl) hielt er eine »realistische« Sichtweise entgegen, die Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit vorsah. Das kam nicht gut an, und Nationalpathos war Lafontaines Sache auch nicht. Vor allem im Osten blieb die SPD unter den Erwartungen. Zwar fuhr der Einheitskanzler keineswegs ein glänzendes Ergebnis ein, aber mit einer gestärkten FDP (Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte sich als unermüdlicher Wegbereiter der Vereinigung inszeniert) reichte es für die dritte Auflage der schwarz-gelben Koalition. Die beschloss bald nach Amtsantritt höhere Steuern. Ein Kuriosum: Die Wahl wurde getrennt ausgezählt nach West und Ost. Daher kamen nur die ostdeutschen Bündnisgrünen in den Bundestag (die im Westen blieben unter fünf Prozent). Und die SED-Nachfolger von der PDS durften auch Abgeordnete entsenden, eine bundesweite Fünfprozenthürde hätten sie nicht genommen.
Die Wahl zur Deutschen Einheit
Thomas Sanchez und Harald Grohrock erzählen von ihrer ersten Wahl
Harald Grohrock (Ost): Mein Name ist Harald Grohrock. Ich bin 47 Jahre alt. Ich war also bei der ersten Bundestagswahl, bei der ich mitwählen durfte, 31 Jahre.
Woran ich mich am meisten erinnern kann, ist der Wahlkampf, der sehr intensiv war und auch ein bisschen schmutzig von allen Seiten. Ein Plakat sehe ich noch ganz deutlich: Da standen die Buchstaben SPDSPDSPDSPDS… Das war von der CDU und das fand ich deshalb so schmutzig, weil sie versucht hat, alle linken Kräfte, also die SPD, die ja für weite Teile der CDU auch links war, mit der PDS in eine Reihe zu stellen.
Es war schon toll, dass man irgendwo in eine Wahlkabine geht – gehen muss, sonst hätte man gar nicht wählen können –, dass man sein staatsbürgerliches Recht wahrnehmen kann und da votiert. Das war natürlich eine tolle Erfahrung.
Ich hatte noch nicht das Gefühl, so richtig in der Bundesrepublik angekommen zu sein. Nicht etwa weil ich so große Sehnsucht nach der DDR hatte, sondern weil das einfach mental ein Problem war, sich als Bundesbürger zu fühlen. Deshalb war die Regierung, die ich mitwählen durfte, noch nicht so richtig meine Regierung, genauso wenig wie die Fußballmannschaft, die 1990 den Weltmeistertitel holte, meine Fußballmannschaft war.
So ähnlich war es auch mit den Wahlen. Den emanzipatorischen Gedanken, der vielleicht mitschwingt, wenn man sich heute die Reden von Joachim Gauck anhört, haben wir so stark nicht empfunden, weil wir damals doch sehr damit beschäftigt waren, unseren Alltag zu organisieren, einfach zu überleben. Deshalb war dieses staatsbürgerliche Hochgefühl, das man da vielleicht heute im Rückblick gern hineinlegen würde, für mich zumindest nicht so stark.
Es gab schon einen Konsens: es gab damals Aufkleber von der »Bild«-Zeitung, auf denen die Bundesrepublik in ihrer neuen Gesamtheit abgebildet und mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne unterlegt war und da stand irgendwas mit Freiheit. Das klebte auf vielen Trabanten hinten drauf; man hat damals auch so seine Meinung durch die Gegend gefahren. Der Bäcker, bei dem wir immer unsere Brötchen holten, hatte immer CDU-Sachen rumliegen. Anders war es natürlich bei meinen Eltern und Leuten, die dem alten System nahe standen. Da war natürlich klar: die wählen die PDS.
Kohl hatte das Glück, durch die Wende noch eine zweite Chance zu kriegen. Und er hat diese Chance auch mit Bravour genutzt. Er hat diese Wahl zu Recht gewonnen, denn er hatte eine ganz klare Aussage. Man würde sich heute manchmal von Politikern solch klaren Aussagen wünschen. Er hatte ein Programm. Die CDU war damals, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, so etwas wie utopiefähig, denn die Deutsche Einheit war damals eine Utopie. Und die CDU ist ganz klar mit dieser Utopie in die Wahl marschiert.
Mein Herz ging so in Richtung Grün; das fanden viele überhaupt nicht toll, die natürlich erstmal einen BMW haben wollen. In meinem Umfeld gab es Enttäuschung. Ich wollte weder Kohl noch die CDU haben, das sage ich ganz ehrlich. Insofern war das aber vorhersehbar. Der Satz mit den blühenden Landschaften war schon etwas arrogant.
Interesse an Politik ist gut. Ich finde auch gut, dass man heute wieder über Karl Marx nachdenkt; dass es viele junge Leute gibt, die die Linke wählen; dass man die Linke heute überhaupt wieder wählen kann, weil die Leute, die es uns damals unmöglich gemacht haben, die Linke zu wählen, so langsam aus dem politischen Betrieb verschwinden. Und dass da wieder Platz ist für neue Ideen, finde ich gut.
Thomas Sanchez (West): Ich heiße Thomas Sanchez und bin 46 Jahre alt. Meine erste Bundestagswahl war 1990, die Wahl zur Deutschen Einheit.
Ich bin zwar Westberliner, bin aber im Schatten der Mauer aufgewachsen: Im Süden, in Zehlendorf, am Teltowkanal. Und wir haben plötzlich erlebt, dass die Brücke, die früher zur Hälfte gesperrt war und man nachher gar nicht mehr betreten konnte, plötzlich wieder offen war; dass sich das alles zusammenfügte; dass der Teltower Damm nach Teltow führt. Das war eine neue Erkenntnis für uns.
Meine persönliche Situation befand sich damals auch gerade im Umbruch. 1990 war ich 20 geworden, hatte ganz frisch meine Ausbildung hinter mir, meine erste Wohnung bezogen: aus dem beschaulichen Zehlendorf nach Schöneberg, Martin-Luther-Straße, zehn Minuten zum KaDeWe. Ich lebte plötzlich mitten in der Weltstadt, im Herzen der Stadt. Damals haben wir noch nicht Hauptstadt gesagt, das war sie ja nicht.
Das Thema war die Deutsche Einheit. Ich kann mich an kein anderes Thema erinnern, das irgendwie dominierend war. Die CDU mit Helmut Kohl und der in Ostdeutschland formierten Allianz für Deutschland war ganz klar für die Deutsche Einheit, mit dem Hinweis: »Kostet alles nix, blühende Landschaften.« Die SPD war nicht offen gegen die Deutsche Einheit, ich hatte aber den Eindruck, sie wollte sie nicht. Das mag ein falscher Eindruck sein, aber ich hatte ihn. Und sie sagte: Das kostet alles ganz viel. Damaliger Spitzenkandidat war Oskar Lafontaine, zuvor Ministerpräsident im Saarland. Der war so weit weg von allem, was mit Berlin und Deutschland und Deutscher Teilung zu tun hatte, dass ihm die Wiedervereinigung mit Frankreich lieber gewesen wäre als die mit der DDR – rein regional; ich bitte, das nicht falsch zu verstehen. Und deshalb kann ich mich nicht erinnern, dass es noch andere Themen gab.
Natürlich bleibt es etwas besonderes, das Recht zu haben, zu wählen. Viele Länder der Welt wünschen sich dieses Recht, gehen dafür auf die Straße. Wir haben es und es ist eigentlich erschreckend, wie viele Menschen es nicht wahrnehmen.
Es ergab sich noch eine persönliche Wendung bei mir, als ich 1992 in der Verwaltung des Deutschen Bundestages angefangen habe. Damit ist natürlich jede Bundestagswahl etwas ganz Besonderes, weil sie mein ganz persönliches Arbeitsumfeld verändert. Plötzlich sind da neue Leute, von der einen oder von der anderen Partei. Das nimmt man natürlich auch wahr. Zeitweilig war ich dann auch am Wahltag im Bundestag involviert in der Betreuung von Korrespondenten und Berichterstattern. Seit mehreren Jahren bin ich das nicht mehr und kann wieder selber als Wahlhelfer arbeiten und bin jetzt auch wieder Wahlvorsteher bei Wahlen. So auch dieses Jahr wieder. Das ist etwas ganz Besonderes, aber den Stellenwert von 1990, den kriegen Sie nur einmal hin.
Plakate im Wahlkampf 1990
Titelseite des Tagesspiegel nach der Wahl
4. Dezember 1990