Gerhard Schröders Durchmarsch ins Kanzleramt ist ein Ereignis: Erstmals löst die Opposition die Regierung direkt über Wahlen ab. Rot-Grün feiert die Regierungsübernahme als Beginn einer neuen Ära. Der Machtwechsel stürzt die CDU in eine tiefe Krise. Angela Merkel nutzt sie als Chance.
1998 Schröders Sieg, Kohls politisches Ende
Am 27. September 1998 wurde, nach 16 Jahren im Amt, Helmut Kohl abgewählt. Die Deutschen schickten den nun auch in seiner Partei als Qual empfundenen »Dauerkanzler« in den Ruhestand. Es war aber nicht nur eine Abwahl. Der Sieg, den die SPD einfuhr, und der dann zum Machtwechsel hin zu Rot-Grün führte, war auch ein Triumph für den Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder. Sein beeindruckender Wahlsieg als Ministerpräsident in Niedersachsen im März (fast 48 Prozent) stärkte ihn innerparteilich. Er galt als »Winner«, der nun eine an Bill Clinton und Tony Blair orientierte Strategie umsetzte (im Gegensatz zu Parteichef Oskar Lafontaine, seinem Widersacher auf dem linken Flügel). »Neue Mitte« lautete sein Wahlkampfmotto. Wirtschaftskompetenz und Reformbereitschaft und nicht das eher traditionelle SPD-Thema der sozialen Gerechtigkeit standen im Mittelpunkt. Schröder konnte mit Lafontaines Ansatz, die staatlichen Ausgaben zu erhöhen, wenig anfangen. Der Niedersachse galt den Wählern damit offenbar als der richtige Mann zur Bekämpfung der stetig wachsenden Arbeitslosigkeit. Schröder gewann, weil er sich dem Gegner inhaltlich näherte. Nicht anders, aber besser – so lautete ein weiterer Slogan. Aber war die SPD nun noch linke Volkspartei (so sahen viele Mitglieder und Funktionäre ihre Partei) oder tatsächlich eine neue Partei der Mitte? Die Rückschau zeigt: Schröder hat seine Partei in eine Spaltung gesiegt, aber das war 1998 nicht absehbar. Den Machtwechsel hätten die Grünen fast noch gefährdet. Sie schnitten schwächer ab als vier Jahre zuvor, vom Wahlkampf blieb die Forderung nach fünf Mark für den Liter Benzin in Erinnerung (im Rahmen einer ökologischen Steuerreform). Aber es reichte für Rot-Grün, Joschka Fischers Traum vom Außenministerium wurde wahr. Die PDS zog erstmals in Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Die FDP blieb im Parlament, in ungewohnter Oppositionsrolle, nachdem sie seit 1969 praktisch ununterbrochen mitregiert hatte. Die CDU (weniger die CSU) stand nach ihrem Wahldebakel vor einem Scherbenhaufen, und das bot jenen eine Chance, die auf den völligen Neubeginn setzten – in der konsequenten Abkehr vom Übervater, der die Partei immerhin seit 1973 im Griff gehabt hatte. Am Ende half das Ergebnis von 1998 vor allem Angela Merkel, weil sie, obwohl oft »Kohls Mädchen« genannt, die geringsten Hemmungen hatte, den radikalen Bruch zu inszenieren.
Die Ära Kohl ist beendet
Jo Schück erzählt von seiner ersten Wahl
Mein Name ist Jo Schück. Ich bin 36 Jahre alt. Ich habe 1998 zum ersten Mal den Deutschen Bundestag mitwählen dürfen. Und zwar in Lorsch an der Bergstraße, das liegt in Hessen.
Wie habe ich die Wahl damals empfunden? Weil ich ja Erstwähler war, war das durchaus eine spannende Geschichte. Ich bin gerade volljährig geworden, zwei Wochen vor der Wahl, war ganz frisch 18 Jahre alt. Zwei Wochen später kam es zu dieser Wahl und ich muss schon mit einem gewissen Stolz sagen, dass ich die Ära Kohl mit-beendet habe, ohne jetzt weiter ins Detail gehen zu wollen. Ich glaube, nach gefühlten hundert Jahren war es auch mal an der Zeit.
Es war eine riesige Umbruchphase für alle Beteiligten. Ich war als Stimmabgebender mittendrin, das war ein erhebendes Gefühl. Der deutsche Kanzler hieß immer Kohl, so wie der Bundespräsident immer Weizsäcker hieß. Wir konnten uns alle an nichts anderes erinnern und wenn man dann mit 16 Jahren ins bewusstseinsfähige Alter kommt und darüber nachdenkt: »Wie ist das eigentlich? Was ist eigentlich ein Bundestag und wie wird der gewählt?« Dann merkt man: Ach, das ist veränderbar. In dem Sinne ging es in meinem Umkreis, auf meiner Schule, vielen so, dass sie gesagt haben: Mensch toll, wir können etwas machen. Wenn dann am Ende dabei herauskommt, dass man – unabhängig davon, was man von der CDU hält – eine Regierung abwählen und eine neue wählen kann, dann hatten wir zumindest damals das Gefühl, dass man etwas bewegen kann.
Wenn ich mich recht erinnere, war Arbeitslosigkeit ein großes Thema, was für den Kreis, in dem ich mich bewegt habe, nicht so eine große Rolle gespielt hat. Als Schüler macht man sich über Arbeitslosigkeit normalerweise nicht so viele Gedanken. Es gab damals noch die Nachwehen aus den Neunzigern, Asyl und Ausländer waren auch ein großes Thema. Wir waren damals Pseudo-Linke, die mit langen Haaren und Palästinensertuch durch die Gegend gelaufen sind. Wir fühlten uns selbst als politische Menschen, auch wenn wir ehrlich gesagt ein bisschen naive Dummbrote waren. Aber zumindest hat es uns irgendwie bewegt. Ob das jetzt sinnvoll war oder nicht, ist eigentlich völlig egal.
Am Wahltag selbst bin ich in ein Wahllokal gegangen, das war in einem Restaurant, das Zum Taubenschlag hieß. Die Besitzerin hieß Magda und ich verbrachte damals sowieso schon viel Zeit bei Magda, weil wir da immer unsere Currywurst aßen und unser Bierchen tranken. Es war völlig absurd. Ich habe bis heute nicht verstanden, wer entscheidet, was warum ein Wahllokal wird. In Schulen kann man das verstehen, als öffentlicher Platz, aber in einem Restaurant, wo wir normalerweise Bier trinken, kegeln und Currywurst essen, war das absurd. Man war in diesem Taubenschlag – eine Kneipe, die auch so anmutete – und machte seine hohe staatsbürgerliche Pflicht auf diesem Zettel und dachte sich: heute Abend sitze ich wieder hier und trinke mein Bier. Ich fand das alles ein bisschen paradox.
Vor 18 Jahren hatten wir gerade hundert Jahre Kohl hinter uns, jetzt haben wir gerade hundert Jahre Merkel. Da ist eine gewisse Parallele. Die Themen sind auch ähnlich. Es geht auch wieder so ein bisschen um soziale Gerechtigkeit, um die Frage nach Asyl und Ausländern. Das spielt heute wieder eine große Rolle. Unter komplett anderen Voraussetzungen gibt es Ähnlichkeiten zu meinem ersten Wahltag vor 18 Jahren.
Plakate im Wahlkampf 1998
Titelseite des Tagesspiegel nach der Wahl
28. September 1998